DAS REICH MEINER MUTTER

Das Bett ist geknickt. Darauf liegt meine Mutter, halb aufrecht, auch geknickt, in der Hüfte. Ihre Augen sind halb geschlossen, der Mund halb offen. Über ihr thront der Bettbügel für den Fall, dass sie sich hochziehen könnte. Umgangssprachlich heißt der auch Bettgalgen. Sie kann sich aber nicht hochziehen. Als ich komme, hat sie dreimal einen kräftigen Schluckauf. Für einen Moment sieht ihr Gesicht aus als wollte sie sagen: Mein Gott! Ist ja schlimm. Nun hör aber mal auf. Auch ein leichtes Grinsen vermeine ich zu sehen. Aber sie kann nichts mehr sagen. Und das Grinsen wünsche ich mir nur.

An der Kopfseite des Bettes hängt eine Collage mit Bildern von mir und meiner Schwester als wir noch klein waren und meine Mutter jung. An der Längswand des Bettes hängen auch Kinderbilder, aber von ihren Enkeln.

Links neben ihrem Bett steht ein Nachtschrank. Darauf liegen oder stehen:

  • 1 Weihnachtsmannfigur (es ist 1.Advent)
  • 1 grüner Engel (es ist 1.Advent)
  • 1 Weihnachtssterngesteck (es ist 1.Advent)
  • 1 Flasche Wasser mit einem gelben Plastiktrinkbecher
  • 1 Rolle Küchenpapier
  • 1 Schnellhefter mit den Bewegungsförderungs-Checklisten

In der obersten Schublade befinden sich 2 Kämme in hellbraun, dazu eine Flasche 4711, ein anderes Parfüm und eine kleine angebrochene Tafel Schokolade. Das offene Fach darunter beherbergt Feuchttücher, Creme und 2 Windeln. Hinter der Tür des Nachtschrankes werden Fotoalben aufbewahrt.

Neben dem Nachtschrank steht eine altmodische Stehlampe aus Holz, der Schirm ist beige und an den Rändern trägt er braune Fransen. Auf dem Boden direkt an der Ecke des Nachtschranks stehen die Hausschuhe meiner Mutter bereit zum Reinschlüpfen und Weggehen, aber meine Mutter kann nicht weggehen. An der Fußseite des Bettes steht ein Stuhl, davor ihr Rollstuhl. Zwischen diesen Stühlen und der Wand folgt nur noch der Kleiderschrank, auf dem oben auf der Ecke noch ein paar Familienbilder aufgereiht sind. Das ist ihr Reich.

 

Nebenan im anderen Bett stöhnt ihre Mitbewohnerin matt und leise, aber periodisch exakt wie eine Uhr, die nicht mehr will. Zu ihr gehören ein paar dünne Arme und ein eingefallenes Gesicht ohne Zähne.

 

Ich halte meiner Mutter ein Stück Niederegger-Marzipan vor den Mund ohne Hoffnung, dass sie darauf reagiert, aber sie öffnet den Mund und nimmt das Stück an und fängt an, darauf zu lutschen. Richtig kauen kann sie nicht mehr. Wie ein kleiner Vogel bei der Fütterung, denke ich.


Leo