Beton

In seinen Gedanken kreisen Wörter, er greift sich das erstbeste heraus. Es ist "Beton": immerhin  der Anfang des schönen Wortes "Betonung". Diese liegt hier aber unausweichlich auf der Silbe Tong, dem Geräusch des Hammers, der auf einen Amboss schlägt. Gewalttätig wie das, was es bezeichnet, er sperrt Menschen ein und die Erde im Boden, und mit ihr alle Würmer, Käfer, alles Wasser. Auch der Regen kommt nicht rein, aber ein Mensch kann darauf gehen, wie jetzt Michael K., der durch das Tor in Ravensbrück schreitet. Er denkt, das sei hier die richtige Gangart, weil Schreiten mit Schrei beginnt.


Überhaupt lässt er die Worte kommen, assoziativ, zufällig, er möchte nicht Denken müssen in dieser Gedenkstätte, nur wilde Gedanken haben und Gefühle fühlen, er möchte dem Grauen näher kommen, erleben, was es heißt, hier zu sein, 80 Jahre früher und zugleich jetzt. Alles mit G, denkt er nun: Gedenkstätte, Gedanken, Gefühle, Grauen. 4G, sein Smartphone vibriert in der Hosentasche.


Bevor er die Häuser betritt, in denen betretenes Schweigen herrschen wird, besucht er den großen Platz mit ein paar Restbaracken am Rand und den zwei einzelnen abgeschnittenen Bäumen mitten drauf. So ein riesiger Platz, auf denen Tausende von Menschen Platz finden, nebeneinander und hintereinander, man kann sie einfach nach Größe sortieren oder nach Haarfarbe oder sie einfach auswählen für allerlei Schrecklichkeit, und man kann ihnen allen zur selben Zeit Ungeheuerliches zubrüllen. Hier ist Platzangst keine Störung, sondern eine normale Reaktion.


Die umgangssprachliche Platzangst findet Ihren Raum in den Gebäuden, den Zellen, dort legt er sich in Gedanken auf die harte Pritsche und deckt sich mit der schmutzigen Decke zu, setzt sich auf das Loch, das ein Klo sein soll, wäscht sich im Waschbecken, das freudlos an der Wand klemmt, nimmt sich den Eimer, der dort steht, falls er sich übergeben muss. Auf einem kleinen Regal liegen ein paar angetrocknete Rosen, die Besucher 80 Jahre zu spät mitgebracht hatten.


Im nächsten Haus eine Bildergalerie mit sieben Reihen a dreißig Portraits von ehemaligen Insassinnen wie ein Altarbild in der Kirche. Davor ein Buch mit den Opfernamen als Bibel. Die Fotografien sprechen zu ihm, jede spricht ihren Namen aus, das Buch blättert dazu jede Seite um wie von Geisterhand geführt. Berta Birnbaum, Olga Benario, Johanna Tesch, Germaine Tillion.


Michael K. hält sich die Ohren zu und stürmt aus der Tür. Er kommt an einer Skulptur zum Stehen. Eine Mutter mit Kind. Stürmte oder türmte ich, fragt er sich noch. Doch schon hört er eine Stimme:
"He, Du Vogel, was machste denn hier bei die Frauen?!"  Er hebt langsam seinen Kopf. Zwei Männer in SS-Uniform stehen vor ihm. Nur einer spricht: "Gehörste nicht hier ums Eck, ins Lager Uckermark?"


Das letzte, was er denkt: Beton bekommt mit der Zeit Risse, ganz bestimmt. Da hat mir doch die Fantasie wieder einen Streich gespielt.