Stefan hebt einen Zweig auf,
das scheint ihm weder verwerfelich noch kafaesk,
es ist irgendwie frisch!
Den werfel ich gleich in den Bach, Mann.
Ein Mann, Thomas sein Name, fragt ihn,
ob er genug Celan hätte, ihn wieder rauszufrischen.
Thomas:
Weil ich ihn dann der Inge borg.
Stefan:
Nö, dann schnitzler ich lieber was draus,
eine Fosse von einem Fisch, einem Brasch zum Beispiel.
Oder ich werfel ihn auf den Hof, Mann!
Oder ins Grass.
Oder nehm ihn mit auf einen Berg.
Im Frühtau, Fallada!
Thomas:
Das trifft mich direkt ins Reh-Mark.
Stefan:
Willst du vielleicht diesen Strunk?
Er hat Goldt im Mund.
Hesse das gedacht?
Thomas:
Ich hätte lieber den Zweig, der schillert so schön.
Im Hintergrund löffelt Herr Schmidt Buchstabensuppe,
dann rollt er Doppelpunkte in den Arno.
Stefan hat Schluckauf.
Stefan:
Ipsen.
Thomas::
Gesundheit!
Stefan:
Das sieht echt lessing aus, wie du da stehst,
aber auch etwas verkleistert.
Thomas:
Den Zweig bitte.
Stefan:
Ich muss zuerst auf den Sybillenberg,
im Frühtau, Fallada,
und dann ins Walsertal.
Thomas:
Den Zweig bitte. (Mit Robert oder Martin?)
Stefan:
Ich kann den Zweig auch ins Rohr stecken und wolfen,
kommen auch Schnitzler bei raus.
Oder in den Bach, Mann! werfen,
dann spritzt eine Fontane heraus.
Direkt ins Mark Brandenburg.
Ha, der war gut, gleich prouste ich vor Lachen!
Thomas:
Den Zweig bitte.
Stefan:
Wir können auch frisch drum maxen!
Thomas:
Ich böller dir gleich eine,
dann wird dir sofort andersch.
Stefan:
Ok. Hier der Zweig, ich geh Heym.
Und zum Abschluss noch einen Reim?
Thomas:
Ich mach dich Plath! Oder Platonov.
Ich brecht dir ein Bein.
Stefan:
Wenn du auch noch mit einem Morgenstern drohst,
sag ich lieber beauvoirs.
Stefan wirft Thomas den Zweig zu.
Er fällt auf seinen Zeh.
Es war Juli.
Über den Weg schlängelt eine Ringelnatzer.
Mutprobe
Seine kurzen Finger umklammern das Balkongeländer. Zwischen den Blumenkästen ist gerade eben genug Platz. Der Wind zerzaust die letzten Margeriten und er blickt bedauernd auf die fallenden Blütenblätter. Er weiß nicht, dass man die Verwelkten abknipsen muss, damit neue kommen. So schaut er nur über die Siedlung. Für sein Unbehagen kann er keinen Grund finden. Er löst sich vom Geländer und schiebt seinen rundlichen Körper durch die Balkontür. Der kleine Schokoladenrest auf dem Sofatisch löscht das Unbehagen nur für einen Moment. Er geht ins Bett.
Am nächsten Morgen steht er auf. Dass Donnerstag ist, weiß er nicht. Er weiß es nie. Er schaut vom Balkon und sieht, dass die Autos, die gestern Abend am Straßenrand parkten verschwunden sind. Gegenüber hält ein Lieferwagen, ein Mann lädt 3 Pakete aus und stellt sie vor die Tür des großen Einfamilienhauses. Fast jeden Tag kommen hier Pakete an, aber noch nie hat er jemanden gesehen, der sie rein getragen hat. Überhaupt weiß er nicht, wer da wohnt. Nur manchmal, wenn er zum Discounter zwei Straßen weiter geht, kommt er an dem Haus vorbei und kann in die Fenster blicken, die nie mit Gardinen oder Rollos geschlossen werden. Er fühlt sich eingeladen, genauer zu schauen, aber was, wenn ein Mensch ihn von innen dabei sieht? So sieht er nur helle Lampen in den großen Räumen. Dann ist dieses Unbehagen wieder da und er geht schnell weiter mit kleinen Schritten, auf kleinen Füßen, mit großen Augen hinter der Brille.
Er zerknüllt das Schokoladenpapier vom Vorabend und wirft es weg. Gelber Sack – hat er gelernt. So wie er gelernt hat, Ordnung zu halten. Seine Mutter hat es ihm beigebracht und ihre Anweisungen sind in ihn hinein gesickert. Nun geben sie ihm Halt. „Ich bin ein guter Junge“, sagt er seinem Spiegelbild im Flur und lächelt. „Dein ganzer Körper hat Kindchenschema,“ sagt der Spiegel, aber er hört es nicht.
Er stopft Schlüssel und Portemonnaie in seine Hosentaschen und nimmt den geblümten Einkaufsbeutel vom Haken neben der Tür. Der Fahrstuhl bringt ihn 5 Stockwerke nach unten. Er tritt in die Sonne, geht mit kleinen Schritten, kleinen Füßen und großen Augen hinter der Brille zum Discounter. Die Menschen der Siedlung sind in Firmen oder Büros oder hinter Hecken in ihren Gärten.
Niemand grüßt,
niemand singt,
niemand lacht,
niemand rennt,
niemand fragt ihn nach dem Weg.
Es ist kühl im Discounter und das tut ihm gut. Er überlegt, statt der Schokolade vielleicht ein Eis zu kaufen und es später auf dem Balkon zu essen. Schokoladeneis! An der Kasse steht er in der Schlange und wundert sich, woher die vielen Menschen kommen. Der 4er-Pack Schokoladeneis liegt schmerzhaft kalt in seiner Hand. Er muss warten. Erst nach dem Bezahlen darf das Eis in den Beutel.
Die kleine, alte Frau vor ihm dreht sich um und sieht ihn an. Ernst weist sie mit der Hand auf den freien Platz vor ihren eigenen Waren. Er zögert ungläubig. Sie dreht sich wieder zu ihm um, nimmt ihm wortlos das Eis aus der Hand und legt es aufs Laufband. Er bezahlt und sieht sie an, lächelt. Sie nickt nur.
Wieder in der Sonne setzt er sich auf die Bank auf der anderen Straßenseite und öffnet die Eispackung. Eines kann er ja ruhig schon essen. Als seine Zunge den Holzstil berührt, um den letzten Rest abzulecken, fällt sein Blick auf die alte Frau, die nun mit ihrem Einkauf die Straße überquert. Jetzt erst bemerkt er ihren langen, schwarzen Mantel und das Kopftuch. Ob es ihr damit nicht zu warm ist? Sie biegt in seine Straße ein. Er hat sie noch nie dort gesehen.
Es ist tagelang warm. Ein wirklicher Sommer. Manchmal spielen Kinder vor dem Haus. Sie gehören zu den Reihenhäusern, wo Eltern in Carports sitzen und grillen. Die Eltern essen und die Kinder kreischen. Warum sitzen die Eltern nicht dichter an seinem Balkon? Er würde gerne ihre Gespräche belauschen. In den Carports bleiben sie seltsam fern. Warum kreischen die Kinder nicht anderswo – auf dem großen Spielplatz um die Ecke? Warum stört ihn das Kreischen? Er selbst war ein stilles Kind. Laute Kinder haben ihm Angst gemacht.
Er stellt sich vor, wie es wäre, wenn in seiner Straße ein kleines Café wäre. Dort säßen freundliche Menschen, die sich unterhielten und im Sommer bunte Getränke vor sich stehen hätten. Vielleicht würde er sich dazusetzen? Oder jemand Fremdes würde sich zu ihm setzen? Überhaupt gibt es hier zu wenig Menschen draußen. Es bewegen sich auf der Straße mehr Autos als Menschen. Er wischt den Gedanken mit einer Handbewegung weg, als sein Blick auf die alte Frau mit dem Kopftuch fällt. Sie geht alleine die Straße entlang. Er hebt die Hand und das „Hallo“, das in seinem Hals sitzt, bleibt stecken. Erschrocken geht er hinein und öffnet den Kühlschrank.
An manchen Tagen ist die Frau mit dem Kopftuch der einzige Mensch, den er auf der Straße sieht (wenn man mal von dem Mann absieht, der Pakete vor das weiße Haus stellt).
Die Frau ist immer allein, trägt immer denselben Mantel und geht im selben Tempo. Er kann nicht herausfinden, in welchem Haus sie wohnt. Der Wunsch, das in Erfahrung zu bringen füllt seine Brust so sehr aus, dass er in den Keller geht und einen klapprigen Campingstuhl nach oben in seine Wohnung holt. Kurz sieht er, wie seine Mutter früher darin gesessen hat. Sie hätte nicht erlaubt, dass der Stuhl so staubig wäre. Entschlossen säubert er ihn, trägt ihn in den Fahrstuhl, hält ihn während der Fahrt nach unten so fest , als würde er sonst davonlaufen und stellt ihn dann an die Straße. Sein Herz klopft und er spürt, wie sein Hemd feucht von seinem Schweiß wird.
Neben dem Campingstuhl stehen, kommt ihm widersinnig vor. Auch Mama hätte das nicht verstanden und gesagt „Setz dich doch, Junge, du bist doch nicht auf dem Bahnsteig!“
Er murmelt leise vor sich hin „Nein, auf dem Bahnsteig bin ich nicht. Da gäbe es auch viel mehr Menschen.“ Er setzt sich, und sieht in einiger Entfernung den Paketboten. Dann wieder Leere. Die Leere entspannt ihn. Er wird nicht gesehen, niemand spricht ihn an und gleichzeitig fürchtet er sich vor dem Angesprochenwerden. Drei Stunden hält er durch. Ein Auto fährt los und an ihm vorbei. Der Fahrer nickt kurz in seine Richtung. Das wars – er nimmt den Stuhl und geht zurück in seine Wohnung.
Es ist nun sein Ritual. Stundenlang an der Straße sitzen. Mutprobe mit Hoffnung. Er verbringt die Zeit auf dem Stuhl mit Grübeleien: Was sage ich, wenn mich jemand fragt, warum ich hier sitze? Er findet keine Antwort, aber er gewöhnt sich dran.
Irgendwann sieht er die Frau auf sich zukommen. Noch ist sie am Anfang der Straße. Er hat also Zeit, seinen Mut zusammen zu raffen. Er merkt nicht, dass er aufsteht, fühlt nicht, dass sein Herz rast. Als sie nur noch einen Meter von ihm entfernt ist, macht er reflexartig einen Schritt nach vorn, lächelt und sagt „Hallo!“. Sie antwortet mit einem Nicken und geht weiter. Einfach weiter, bis sie um die Ecke verschwindet. Er lässt sich auf den Stuhl fallen. Atmet tief ein. Und aus.
Er weiß nun, zu welcher Zeit sie hier vorbeikommt. Er plant. Und er lächelt, wenn etwas gelingt. Er muss dafür Besorgungen machen. Das ist knifflig. In der Zwischenzeit sitzt er auf seinem Campingstuhl und begrüßt sie mit einem Lächeln und einem „Hallo!“. Hat sie letztes Mal nicht sogar zurückgelächelt?
Er hat alles beisammen und stellt zwei Campingstühle an die Straße. Unter seinem Stuhl steht eine kleine Kühlbox. Darin: Schokoladeneis. Wenn sie sich setzt, wird er so glücklich sein, wie lange nicht mehr. Wenn sie sich nicht setzt, ist er der mutigste Mann der ganzen Straße.
Emmi Juli 2025